Besonders auffallend sind 1. der extrem lange Titel und 2. der Begriff „Hollow State“. Glücklicherweise das Bild auf dem Buchdeckel einen Hinweis auf das Thema: Zu sehen sind vier große Vakuumröhren, von denen die freigestellte Röhre in der Mitte mit ihrem glänzenden Glaskolben, dem Innenleben und - besonders wichtig mit der glühenden Heizung beeindruckt. Auch die Röhren im Vorder- und Hintergrund glühen warm vor sich hin.
 
Ich zeigte das Buch verschiedenen Leuten und stellte fest, dass sowohl der Titel als auch das Titelbild perfektes Stirnrunzeln und Fragen wie „Was ist der ‚Status eines hohlen Zustands‘?“ (von Röhren-Ahnungslosen) oder „Ist das da eine 807 und im Hintergrund eine 6AQ5?“ (von Röhren-Fans). Die Frage ist, ob beide Gruppen von diesem Buches profitieren.
 
„Hollow State“ schreit für alle außerhalb der Röhren-Szene nach Erklärung. Ich war überrascht, dass der Autor diese schöne Wortschöpfung nicht für erklärenswert hält. Vielleicht ist dieser Begriff ja in den USA besser bekannt als in Europa. Wenn sich noch an Werbeaussagen wie „voll transistorisiert“ zu Radios, Tonbandgeräten und Plattenspielerkombinationen erinnert , für den macht die im Begriff enthaltene Umschreibung einer Röhre als Ding im „hohlen Zustand“ vielleicht Sinn. Schließlich sind Röhren innen hohl. In diesen Hohlkörpern herrscht nämlich Vakuum = nichts! Langer Rede kurzer Sinn: „Festkörper“ (engl. solid state) steht für Halbleiter bzw. den Transistor, welcher in den USA die Vakuumröhre ab etwa 1955 langsam und zunehmend ausrottete…

Es war einmal

In den Kapiteln 1 und 3 gibt Richard Honeycutt einen kurzen Überblick über die Geschichte der eigentlichen Vakuumröhre und ihre Verwendung in heute historischen und damals berühmten kommerziellen Radios und Verstärkern. Während in Kapitel 1 einige europäische Aspekte erwähnt werden, befasst sich Kapitel 2 vorwiegend mit Produkten aus Nordamerika, wo die Röhre viel früher als in Europa kommerziell erfolgreich war, da Radio und Fernsehen viel früher breit in US-Haushalte Einzug hielten als diesseits des Ozeans. Sie erinnern sich? Wir haben doch gerne länger auf das Fernsehen mit PAL-Farbe gewartet und solange schwarzweiß in die Röhre geguckt, oder? Wenn US-Hersteller von Radios, Röhren, Bauteilen und Audiogeräten erwähnt werden, wird in ein paar interessante Zeilen ihre Geschichte näher gebracht, inklusive Flops, Erfolge, Übernahmen usw. Es werden nicht nur Riesen wie RCA, sondern auch kleinere Götter wie Altec (für „alternative technology“). beleuchtet.

Zwischen den Kapiteln 1 und 3 werden bemerkenswerterweise die Grundlagen der Röhrentechnik erklärt – besonders für Anfänger interessant. Das komplette Buch hindurch bleibt Honeycutts Sprache und der Gebrauch von elektronischen Begriffen sachlich und auf den Punkt gebracht – trotzdem erklärt er die Sachverhalte auf eine lockerere Art und Weise. Dennoch hat gerade dieses Kapitel mit seinen nur 24 Seiten, das vom einfachen Trioden-Verstärker bis zum Push-Pull-Verstärker reicht, eher Lehrbuch-Charakter.

Aufheizen

Komplexere theoretische Aspekte von Röhren werden in den Kapiteln 4 und 5 behandelt. Sie befassen sich mit der Konstruktion von Vorverstärkern bzw. der Kunst des Kurvenlesens. Das Kapitel über das Design von Vorverstärkern ist keineswegs trocken und gipfelt in einem konkreten Projekt mit einer Raumladungsröhre (1) des Typs 12EL6, die von einem Operationsverstärker angesteuert wird. Das hybride Design unterstreicht die Ansicht des Autors, dass Röhren weder heilig sind, noch dass ihre Anbindung an Halbleiterbauelemente kompliziert ist.

Dieses Kapitel fand ich am besten, denn hier geht es um unterversorgten Verstärker mit einer ECC8* (in den USA als 12A*/6/7 bekannt). Er operiert mit Spannungen von nur 12 V, also mit so wenig Volt, dass sich sogar die Volltransistor-Generation von Elektronikern traut, mit diesen „großen Glüh-FETs“ zu experimentieren. Man kann sie immer noch aus China und der Ukraine beziehen. Die Geschichte dieses Verstärkers, die mit einer populären Veröffentlichung begann, liest sich ebenfalls spannend. Honeycutt gelingt eine elegante Verknüpfung von Theorie mit dem Anreiz zum Löten.

Kapitel 5 mit seinen eher mittelmäßigen Reproduktionen von Röhrendaten enttäuscht. Diese berüchtigten Kennlinien sollte eigentlich *jeder* vor dem Einschalten *jeder* Spannung, ob hoch oder niedrig, gelesen haben. Glücklicherweise ist es nicht notwendig, genaue Zahlen aus den alten Diagrammen zu lesen. Was Honeycutt damit beabsichtigte, dürfte klar sein.

 „TS“- und „OT“-Wörter

Kapitel 6 behandelt kurz das Thema „Röhrenklang“ und vermeidet – für meinen Geschmack prima - pure Rhetorik und reinen Subjektivismus sowie persönliche Glaubensbekenntnisse, wie man sie leider oft in Foren für Audio-Fans sieht. Stattdessen beschränkt er sich darauf, die Parameter zu diskutieren, die in die Klangwahrnehmung einfließen Er beleuchtet auch Trugschlüsse, die sich in Abhandlungen über den „besten Verstärkerklang“ oft finden. Das Buch geht zu Recht nicht in die Kluft ein, die zwischen Röhrenliebhabern und Röhrenhassern zu bestehen scheint. Auch die Grabenkämpfe zwischen Fans und Feinden der Röhre XYZ lassen ihn kalt.
 
Der Ausgangstrafo, nach „Hochspannung“ der am zweithäufigsten gefürchtete Aspekt von Röhrenverstärkern, wird in Kapitel 9 eher kurz diskutiert. Erst am Ende wird der Ringkerntrafo erwähnt. Der beste Trafo aller Zeiten wird ignoriert, nämlich kein Trafo im Signalpfad! Siehe das berühmte 800-Ω-OTL-Konzept der niederländischen Firma Philips, die wohl leider nicht in New Amsterdam gegründet wurde ;-)

Im Umfeld der Röhre

Weitere Kapitel behandeln nicht nur die üblichen Röhrenthemen etwa bei Gitarrenverstärkern (speziell Verzerrung, Fuzz etc.), der Röhrenauswahl, von Röhrentestern, Netzteilen (Brumm-Problematik) und Fehlersuche, sondern auch seltenere Phänomene Röhrenmikrofone oder Dynamikbearbeitung mit Röhren. Die Abschnitte über die sorgfältige Reparatur und Fehlersuche bei Röhrenverstärkern ist sehr gut gemacht, voller wertvoller Ratschläge und mit genug Beweisen, dass Honeycutt voll dabei war.

Fazit

Das Buch setzt einen Standard für den drucktechnischen Satz von Formeln und die korrekte Verwendung von Auszeichnungen wie KursivschriftTief- und Hoch-Stellungen und erleichtert daher das Lesen und das Verständnis. Leider ist die Druckqualität einiger Illustrationen, wie etwa von Oszilloskop-Bildern, einigen Strichzeichnungen und Grafiken so verbesserungswürdig, dass sich ihr Signal/Rausch-Verhältnis erheblich verbessert hätte, wenn sie die Grafik-Abteilung von Elektor durchlaufen hätten. Diese Kritik gilt nicht für die Reproduktionen von antiken Verstärkerschaltungen, die in dieser Qualität durchaus ihren Charme haben.
 
Das Buch liest sich flüssig und ist gut organisiert, wobei die historischen Aspekte der Röhren immer im Hintergrund stehen, aber die Vergangenheit nicht romantisiert oder mythisiert wird. Es hat eine vorausschauende, herausfordernde Perspektive und fordert in einigen Fällen dazu auf, den Lötkolben einzuschalten und mit Hohlkörperbauelementen zu experimentieren.
 
Urteil: Empfehlenswert!
 
The State of Hollow State Audio - in the Second Decade of the 21st Century
Richard Honeycutt
382 Seiten, Softcover
Elektor International Media
ISBN: 978-1-907920-79-0
Preis: 31,46 € (Nichtmitglieder: 34,95 €), E-Book: 26,95 € (Nichtmitglieder: 29,95 €)
www.elektor.de/the-state-of-hollow-state-audio